Beim ersten Gespräch war ich dabei. Wir trafen einen jüdischen Schriftgelehrten, wie er in der Bibel steht: weise, sehr belesen, mit einem gütigen Gesicht. Er erzählte uns von seiner Mutter, welche mehrere Lager überlebt hatte – auch Auschwitz – und den Gräueln des Naziregimes knapp entkam. Nach dem Krieg, verheiratet in der Schweiz, sprach sie in der Familie offen über die Geschehnisse während des Krieges. Das schlechte Essen, die miserablen Arbeitsbedingungen und die Tatsache, dass man jeden Tag ohne Grund erschossen werden konnte. Auf die Frage, welche Spuren diese Ereignisse in seinem eigenen Leben und dem seiner Geschwister hinterlassen habe, antwortete er auf folgende Weise: Er würde nie freiwillig nach Deutschland gehen. Doch wenn es unausweichlich wäre, würde er ohne Aufheben in unser nördliches Nachbarland reisen. Weiter führt er aus: Natürlich könnten die Kinder oder Enkel/-innen der Deutschen, welche sich am Naziregime beteiligten, nichts für die Untaten ihrer Eltern. Aber dennoch stammten sie von Menschen ab, welche den Horror des Dritten Reiches zu verantworten hätten. Eine eigenartige Position. Weder Fisch noch Vogel. Unser Gespräch war interessant. Unsere Begegnung intensiv. Gegen Schluss des Interviews kamen wir auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina zu sprechen. Welches wäre seine Haltung in dieser Auseinandersetzung? Um es kurz zu machen: Es gab keine klare Antwort, die auch einen palästinensischen Staat eingeschlossen hätte. Er sagte aber auch nicht, dass das Land zwischen Jordan und Mittelmeer ausschliesslich die Heimat des jüdischen Volkes wäre. Wie kann das Leben für die Nachkommen der Überlebenden des Holocausts weitergehen? Wie kommen wir zu einem dauerhaften Frieden zwischen Israel und Palästina? Versöhnung heisst das Zauberwort. Ohne Versöhnung kein gutes Leben. Nicht an der Oberfläche, sondern tief in der Seele. Nicht in einem Tag, in einer Stunde machbar. Vielleicht dauert sie ein ganzes Leben. Gespräche und nochmals Gespräche. Zuhören und austauschen, und noch mal zuhören. Versöhnung als Pilgerweg zwischen den zerstrittenen Parteien. Versöhnung als Ziel, wo alle Menschen Brüder und Schwestern sind. Juden, Muslime, Christen, Christinnen, Muslimas, Jüdinnen. Vor ein paar Wochen, an der Bushaltestelle Zentrum in Volketswil: Eine Gruppe Jugendlicher greift einen Mann an. Dieser bleibt verletzt mit mehreren Knochenbrüchen im Gesicht liegen. Wie es zum Streit kam? Zu diesem Ausbruch sinnloser Gewalt? Ich weiss es nicht. Aber auch hier führt kein Weg an der Versöhnung zwischen diesen Männern vorbei. Nur Versöhnung bringt den Beteiligten Frieden in ihre Herzen.
Tarzisius Pfiffner, Seelsorger katholische Pfarrei
PS. Auch unser jüdischer Gesprächspartner wurde Opfer eines Angriffs auf seine Person. Antisemitismus nennt man es. Er hat den Täter nicht angezeigt.