Auch die Psychoanalyse und die Tiefenpsychologie verneinen den freien Willen: Triebe, das Unterbewusstsein und die frühkindliche Prägung steuern mein Verhalten – ich bin unbewusst unfrei, auch wenn mir mein Ego, mein Ich etwas anderes vorgaukelt. Der Wille ist nicht frei, sondern fremdbestimmt – in einem rein naturwissenschaftlichen Weltbild gibt es keinen beweisbaren Platz für den freien Willen. Das sieht unser Rechtssystem anders. Das sagt nämlich: Ja, du bist urteilsfähig. Du hast einen freien Willen und du kannst und musst Verantwortung übernehmen. Du kannst das Richtige oder das Falsche tun oder lassen und bist dann eben schuldig oder unschuldig. Der Mensch ist urteilsfähig, er hat einen freien Willen: Das sagt auch das Christentum, denn sonst wären zum Beispiel die zehn Gebote sinnlos: «Du sollst nicht stehlen» – was bedeutet das, wenn wir nicht auswählen können, frei in unserem Willen stehlen oder eben nicht stehen zu können? Oder «Liebet eure Feinde» in der Bergpredigt: Was würde das bedeuten, wenn wir uns nicht bewusst für diese Feindesliebe entscheiden könnten? Gut und Böse wären sinnentleerte Begriffe wenn sie nicht mit Freiheit, mit freiem Willen verbunden wären. Aber auch im Christentum wird gestritten, wie frei denn dieser Wille wirklich ist: Gemäss Paulus ist das Sinnen und Trachten der Menschen ganz und gar von der Sünde bestimmt – wie eine Krankheit, eine Seuche korrumpiert die Sünde den freien Willen und wendet ihn von Gott hin zu Egoismus und Selbstsucht. Ich will vielleicht Gutes, aber schlussendlich kann ich nur Böses tun, sündigen. Pelagius, ein Kirchenvater aus dem vierten Jahrhundert nach Christus, verteidigte hingegen den freien Willen des Menschen: Der Mensch sei von Gott gut geschaffen und frei und fähig, sich für das Gute zu entscheiden, ja der Mensch sei sogar auf das Gute hin bestimmt. Philosophen, Humanisten und später die Aufklärung würden diese Position ähnlich vertreten: Der Mensch ist frei in seiner Entscheidung – aber wenn er gemäss der Vernunft, also klug handelt, wird er immer das Gute wählen. Unsere Erfahrung lehrt uns da leider etwas anderes. Der Streit dieser beiden Positionen zieht sich weiter über die Reformation hin. Martin Luther meinte beispielsweise, der Wille des Menschen sei entweder von Gott bestimmt oder vom Teufel – bis in unsere Tage. Gerne wären wir freie, autonome und selbstbestimmte Wesen – das ist aber leider nur ein «frommer» Wunsch, wie uns die moderne Naturwissenschaft und auch die Geistesgeschichte lehrt. Wir Menschen treffen Entscheidungen meist aus Eigeninteresse oder aus Gefühlen, dem hohlen Bauch heraus – und diese sind meist eben durch Triebe, Prägung und sogar Hormone gesteuert. Und das auch in der Öffentlichkeit, der Politik! Erst im Nachhinein begründen wir unsere Entscheidung rational. Indem wir das aber wissen und auch ein Stück weit akzeptieren, gewinnen wir wieder an Handlungsfreiheit, an Autonomie zurück. Ich kann mich bei meinen Entscheidungen dann immer wieder selber hinterfragen: Aus welchen Gründen genau entscheide ich mich hier so? Warum will ich das jetzt genau? Und was hat das mit meiner Mutter beziehungsweise meinem Vater zu tun (ein kleiner Witz aus der Psychoanalyse hier am Rande)? Als religiöser oder heute mehr spiritueller Mensch kann ich mich hier fragen: Handle ich hier so, wie es meiner religiösen beziehungsweise spirituellen Überzeugung entspricht, sprich Gott gemäss? Was würde Jesus wohl dazu meinen? Bin ich hier immer noch «in der Liebe», wie Paulus meint? In und aus der Liebe heraus zu handeln – das ist wahrscheinlich der gottgefälligste Weg; ihm zu folgen aber «freiwillig».
Roland Portmann, reformierter Pfarrer