Die verfeindeten Familien machen mit ihrem Gezänk und ihren blutigen Kämpfen Verona unsicher – was mich seit jeher besonders bekümmert, weil es die Stadt meines Namenspatrons ist. Den Veroneser Bürger packt die Ohnmacht angesichts der adeligen Rowdys. Bei Gottfried Kellers Novelle «Romeo und Julia auf dem Dorfe» hingegen wissen wir haargenau, was der Katastrophe vorausging: Die benachbarten Bauern freveln ein herrenloses Stück Land und geraten schliesslich aus Streitlust und Gier ins Elend. Ihre Kinder, die sich lieben, gehen ins Wasser. Obwohl der Grund des Privatkriegs durchsichtig ist wie Gülle, kann den Streithähnen Manz und Marti niemand helfen und der Untergang ist vorgezeichnet. Den landlosen Betrachter packt auch hier die Ohnmacht. Kann niemand helfen oder will niemand helfen? Machen wir es uns nicht etwas einfach mit dieser Ohnmacht? Es erinnert mich an die Zeiten, wo gelegentliches In-Ohnmacht-Fallen zum gutbürgerlichen Repertoire gehörte. Wenn die Capulets und Montagues schlägern: Wir fallen, peng, in Ohnmacht. Wenn die schlauen Bauern sich zu Tode quälen: peng, Ohnmacht. Wenn der Stürchel vor uns seinen Abfall aufs Trottoir wirft – Ohnmacht. Wenn der Totengräber neben der Urne Kaugummi kaut: Sagen Sie es selbst, ich bin es nämlich leid. Und ich weiss es, mit oder ohne tieferen Grund, von dem Tag an, an dem ich und Sie nicht mehr wegschauen, sondern reagieren, wird sich etwas ändern, tröpfchenweise vielleicht, aber immerhin. Es wird sich dann am ehesten etwas ändern, wenn es uns gelingt, die Sache mit Humor und nicht wie ein tollwütiger Hund zu artikulieren. Manchmal genügt, grad bei uns älteren Leuten, bereits ein freundlicher Blickkontakt, und im Zug wandern die Füsse vom Polster auf den Boden. Nutzen wir doch unseren unbezwingbaren Charme. Oder haben sie vergessen, wie charmant Jesus den Zöllner vom Baum heruntergeholt und umgepolt hat? Wir könnten einiges von ihm lernen; von beiden übrigens. Wenn Sie noch interessiert, woher der Typ hier immer die tollen Ideen fürs «Wort zum Sonntag hat»: Eben komme ich aus dem Theater, wo ich «Romeo und Julia» als Italo-Disco-Oper gesehen habe. Ich kann das Stück empfehlen. Der junge Regisseur und Autor Bonn Park hat Shakespeares Stück zusammen mit den Schauspielerinnen und Schauspielern umgeschrieben und besondere Spiellust in die erwähnte Familienfehde gelegt. Er hat sie als Wahlkampf inszeniert – wie sinnfällig. Oder wissen Sie immer so genau, was die immer schriller gegeneinander kämpfenden Parteien eigentlich wollen würden, wenn? Gut. Manchmal ist es klar: Milliardäre wollen reicher werden. Manchmal geht es «nur» um Macht. Aber dann ist es höchste Zeit, dazwischenzugehen. «Laber rabarbar», Julias Antwortversuch in der köstlich geratenen Oper, genügt dann leider nicht.
Zeno Cavigelli, katholischer Seelsorger