Damals fand ich die Willkommensgeste deplatziert. Heute denke ich: Könnten wir uns doch wieder so direkt und unzensuriert verhalten. Wir müssen uns noch eine Weile gedulden. Zum Glück haben wir noch andere Mittel, um Distanz zu überwinden. Vor ein paar Wochen trug ich den ganzen Tag lang Maske, alle um mich herum auch. Offenbar hatte ich mich noch nicht daran gewöhnt, denn auch in den Träumen der darauffolgenden Nacht bedeckten alle ihr Gesicht. Am nächsten Abend sehnte ich mich nach Befreiung und frischer Luft. Also setzte ich mich nach der Arbeit spontan für eine halbe Stunde aufs Rad. Bei einer unübersichtlichen Baustelle sah ich eine Mutter mit zwei Kindern, die über die Strasse wollte. Sie hielt die beiden Kleinen zurück und sah sich vergeblich nach einer Ampel oder einem Zebrastreifen um. Ich stoppte und liess ihr den Vortritt. Voller Dankbarkeit strahlte sie mich an. Eigentlich das Normalste der Welt: eine freundliche Geste, ein wohlgesinnter Blick. Doch an diesem Abend wärmte es mir das Herz, als hätte ich vergessen, wie ein strahlendes Gesicht aussieht. Meinem Gegenüber schien es gleich zu gehen. Es fühlte sich an, als hätten wir uns einfach so aus Sympathie die Hände gereicht. Nicht zwei, sondern vier. Ehe wir weitergingen, schauten wir uns noch einmal nacheinander um. Was für eine Freude: ein strahlendes Gesicht!
Franziska Ricklin, Sozialdiakonin Reformierte Kirche
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