Anmelden | Registrieren

Ein strahlendes Gesicht

Erstellt von Franziska Ricklin, Sozialdiakonin | |   Unsere Zeitung

Lange vor Covid nahm ich an einem offiziellen Essen teil. Eingeladen hatte ein siebenköpfiges Gremium. Drei der Gastgeber verspäteten sich jedoch – ihr letzter Termin zog sich in die Länge – und stiessen dazu, als wir den Salat verspeisten. Sie liessen es sich nicht nehmen, uns willkommen zu heissen und reichten über den Tisch hinweg allen die Hand. Ich legte mein knuspriges Stück Brot beiseite und drückte die drei Hände, eine verschwitzter als die andere nach einem stressigen Termin und der eiligen Fahrt hierher. Desinfektionsmittel hatte damals noch niemand dabei. Deshalb fuhr ich mit den Fingern verstohlen über die Serviette, ehe ich wieder nach dem Brot griff, das sich auf einmal so gar nicht mehr knusprig anfühlte.

Damals fand ich die Willkommensgeste deplatziert. Heute denke ich: Könnten wir uns doch wieder so direkt und unzensuriert verhalten. Wir müssen uns noch eine Weile gedulden. Zum Glück haben wir noch andere Mittel, um Distanz zu überwinden. Vor ein paar Wochen trug ich den ganzen Tag lang Maske, alle um mich herum auch. Offenbar hatte ich mich noch nicht daran gewöhnt, denn auch in den Träumen der darauffolgenden Nacht bedeckten alle ihr Gesicht. Am nächsten Abend sehnte ich mich nach Befreiung und frischer Luft. Also setzte ich mich nach der Arbeit spontan für eine halbe Stunde aufs Rad. Bei einer unübersichtlichen Baustelle sah ich eine Mutter mit zwei Kindern, die über die Strasse wollte. Sie hielt die beiden Kleinen zurück und sah sich vergeblich nach einer Ampel oder einem Zebrastreifen um. Ich stoppte und liess ihr den Vortritt. Voller Dankbarkeit strahlte sie mich an. Eigentlich das Normalste der Welt: eine freundliche Geste, ein wohlgesinnter Blick. Doch an diesem Abend wärmte es mir das Herz, als hätte ich vergessen, wie ein strahlendes Gesicht aussieht. Meinem Gegenüber schien es gleich zu gehen. Es fühlte sich an, als hätten wir uns einfach so aus Sympathie die Hände gereicht. Nicht zwei, sondern vier. Ehe wir weitergingen, schauten wir uns noch einmal nacheinander um. Was für eine Freude: ein strahlendes Gesicht!

Franziska Ricklin, Sozialdiakonin Reformierte Kirche

Zurück
Die Kommentarfunktion steht nur registrierten und angemeldeten Nutzern zur Verfügung. Zum Login.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!