Wir alle warten ungern, insbesondere wenn die Pendenzenliste, wie jetzt auf Ende Jahr hin, steigt. Warten hat auf den ersten Blick etwas mit Passivität zu tun und scheint negativ konnotiert zu sein. Wir haben uns mit unserer Situation abgefunden, resignieren und dümpeln vor uns hin, bis von aussen eine Veränderung kommen möge ... Bei genauerem Hinschauen hat Warten aber auch eine aktive Komponente. Da sprechen wir vom Warten auf oder Erwarten. Ein guter Primarschulfreund von mir hat auf die Sommer- und Herbstferien verzichtet, um im November mit seiner Partnerin nach Hawaii zu gehen. Den Tag der Abreise hat er sehnlichst erwartet und geniesst jetzt seine wohlverdiente Auszeit. Das Volk Israel war nach der Flucht aus Ägypten 40 Jahre lang auf Wanderschaft durch die Wüste und war voller positiver Erwartungen auf das gelobte Land, natürlich auch voller Ungeduld und Murren, so dass Mose immer wieder Fürbitte einlegen musste. Für Jugendliche in der zweiten Oberstufe beginnt im November das Schnuppern. Sie warten auf positive Zusagen und natürlich auf die Lehrstelle selbst, beeinflussen diesen Warteprozess aber zugleich aktiv. Nebst diesem aktiv-selbstbestimmten «Erwarten» möchte ich mich doch nochmals fürs passive Warten, nicht im Sinne des fatalistischen Resignierens, sondern im Sinne des «meditativen In-sich-Gehens», starkmachen. Alle, die im letzten Jahr einen lieben Mitmenschen verloren haben und noch Beistand oder Trost suchen, warten auf den Toten- oder Ewigkeitssonntag am 24. November. Und, auch diese Bemerkung sei mir noch erlaubt, eine Woche später beginnt mit dem Advent das alljährliche Warten auf Jesus Christus, auf das Kommen des Sohnes Gottes in unsere Welt, auf «den Einbruch des Göttlichen in menschliche Gefilde». Liebe Leserin, lieber Leser, warten im Sinne von «unnütz Zeit-verstreichen-Lassen» ist uns hinderlich und stört uns. Doch bleiben wir nicht in der Warteschlaufe. Gestalten wir unsere Leerzeiten selbstbestimmt, aktiv oder, ganz bewusst, mit Gottes Hilfe, meditativ. Ich wünsche Ihnen geistreiche Novembertage.
Pfarrer Tobias Günter, reformierte Kirche
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