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Romane lesen, wozu?

Erstellt von Zeno Cavigelli, katholischer Seelsorger | |   Unsere Zeitung

Auf ihrer Italienreise kommt ein Mann zum Schluss, dass er sich von seiner Partnerin trennen will. Auch an seine langweilige Büroarbeit im Ministerium will er nicht zurück. Dort hat er diese Frau übrigens kennengelernt. Ich lese gerade einen Roman aus den Fünfzigerjahren, von gestern also.

Ein Lastwagenfahrer, der die beiden mitnimmt, da die Züge voll und die Bahnschalter schon geschlossen sind, setzt in der Kabine dem Mann einen Floh ins Ohr, während sie hinten auf der Ladebrücke die zudringlichen Wanderarbeiter in Schach hält. Er müsse seine entwürdigende Büroarbeit aufgeben, findet der Fahrer. Und noch etwas: An der Küste gebe es einen paradiesischen Ort mit einer Flussmündung, in die zu tauchen sich mehr als lohne. Sein Vetter könne ihm eine Taucherbrille ausleihen. Und dazu: Eine Jacht liege dort vor Anker, sie gehöre der schönsten Frau, die er je gesehen habe. Während einer Woche in der Bruthitze von Florenz reift sein Entschluss. Während seine Partnerin, die er eben noch heiraten wollte, sich durch die Museen kämpft, verbringt er die Tage mit Nachdenken in einem Kaffee. Er will seine Arbeit im Ministerium verlassen und zugleich diese Frau, denn sie arbeitet im selben Büro, und sie haben sich eigentlich nichts zu sagen. Dazu will er an diesen Ort am Meer. Dort beendet er total betrunken die zwei Jahre mit seiner Partnerin, und als sie abgereist ist, schafft er es erstaunlicherweise, von dieser schönsten Frau auf die Jacht eingeladen zu werden. Vielleicht bleiben die beiden auch aneinander kleben. Lieben sie sich? Im Whisky verschwimmen die Konturen der Personen und ihrer Beziehung. Weil «Der Matrose von Gibraltar», der Roman von Marguerite Duras, sich von Seite zu Seite mehr aus einem realistischen Erzählkorsett befreit – der zweite Teil könnte auch ein Traum eines Verlassenen sein –, haben es bei mir als Leser die Fragen umso leichter: Was sind das für Menschen? Wozu gehen sie Beziehungen ein? Tun sie das überhaupt? Gibt es so etwas wie Bindung, Verpflichtung? Sind ihre Beziehungen nicht alle verzweckt? Sind sie es nur hier im Roman oder auch im wirklichen Leben? Früher war es einfach: Der Bauer braucht die Bäuerin. Und Nachkommen. Heute sind solche Zwänge nur noch ausnahmsweise von Belang. Tritt deshalb wirklich lauter Liebe an die Stelle der wirtschaftlichen Notwendigkeit? «Seit zwei Jahren schleppe ich dich mit mir herum», wirft die verlassene Freundin ihm an den Kopf. Hat er schlicht eine gebraucht fürs Kochen, fürs Hemdenbügeln, im Bett? Hat sie schlicht einen gebraucht gegen das Alleinsein, für die Hoffnung? Wir modernen Menschen haben uns viel Freiheit erkämpft. Freiheit vom Diktat von Kirche und Gesellschaft, Freiheit zum eigenen Lebensentwurf, reproduktive Unabhängigkeit. Aber Freiheit wofür und für wen? Darüber lohnt es sich nachzudenken, auszutauschen. Und deshalb lohnt es sich, Romane zu lesen, auch solche von gestern.

Zeno Cavigelli, katholischer Seelsorger

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