Ungerechtigkeit, das ist auch ein nagendes, ein bitteres Gefühl, mit einer Situation überfordert und vor allem im Stich gelassen zu sein. Zusammenhalt, das ist Thema für die sogenannten Grossen, die Erwachsenen, in diesem «politischen Herbst». Die Folgen von Pandemie und Krieg in der Ukraine, die immer sichtbareren und spürbaren Folgen der Klimakrise, die Energiekrise und die In flation treffen die Mitte der Gesellschaft in der Schweiz wie bei unseren europäischen Nachbarn ringsum. Unser gesellschaftliches Rückgrat droht zu brechen. Es geht ums Ganze. Ums Gemeinwohl. Um unser aller Wohl. Das heisst: den Einzelnen im Blick haben, solidarisch handeln und kleinere durch grössere Einheiten stärken. Oder anders: Es geht um Personalität, Solidarität und Subsidiarität. Klingt kompliziert, ist aber «praxistauglich». Denn diese drei müssen gleich stark zusammenwirken. Kippt eines, kippt alles. Wie beim Spiel mit Dominosteinen. Wir können es an der Rezeption von «Rettungspaketen» ablesen, die von den verschiedenen Regierungen lanciert werden: Wird eine soziale Gruppe – egal ob Unternehmer, Rentner oder Studenten – übersehen, ist der Aufschrei gross. Der Mensch, der Einzelne zählt. Wenn Politikerinnen und Politiker nur über Zahlen und Statistiken reden, beschleicht mich manchmal der Verdacht, dass sie keinen persönlichen Bezug zu Betroffenen haben. Sich vom Schicksal des Einzelnen berühren zu lassen, ist eine Chance, weil es die innere Einstellung und das Handeln verändert. Solidarisch handeln gilt auch weltweit: Europa kämpft um Alternativen zum russischen Gas – und in den Schwellenländern geht das Licht aus. Die Schweiz und Europa dürfen Länder wie Pakistan oder Bangladesch nicht vom Gasmarkt verdrängen. Darüber redet aber kaum jemand. Der überwiegend von den Industrienationen verursachte Klimawandel trifft die ärmsten Menschen in den Ländern des globalen Südens zuerst, ungebremst. Sie werden damit zu grossen Teilen allein gelassen. Und Subsidiarität bedeutet: Kleinere Einheiten dürfen nicht aufgesogen werden durch grössere. Die Demokratien der Schweiz und Europas leben vom Mittelstand. Weil der Handwerksbetrieb, der private Pflegedienst oder die kleine Pizzeria an der Ecke das grosse Ganze zusammenhalten. Doch dieser Kitt der Gesellschaften in der Schweiz wie in ganz Europa bröckelt – und damit der soziale Frieden. Eigentlich könnten wir von Kindern lernen, wie sozialer Frieden geht. Zum Beispiel aus der Geschichte mit dem Apfel: Das Mädchen hat ja nicht für sich, sondern für ein anderes Kind gekämpft. Dem Mädchen selbst hat dieser Einsatz also gar nichts gebracht – oder doch? Vielleicht einem neuen Freund. Sicher, Kinder können sich heftig streiten und derb raufen und zum Verzweifeln dickköpfig sein. Doch fast alle bringen diesen Gerechtigkeitssinn mit, das feine Gespür für Recht und Unrecht. Sie können «ich» sagen, aber auch «wir». Und sie suchen andere zum Reden und Spielen. Wir alle brauchen diesen Dreiklang: den Blick auf den Einzelnen, den für das grosse Ganze und den für das vielfältige Dazwischen. Nicht nur in diesem Herbst und in diesem Winter. Ich wünsche Ihnen eine gute Woche.
Pfarrerin Sabine Mäurer
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