Anmelden | Registrieren

«Webfehler – warum auch 80 Prozent genügen»

Erstellt von Judith Schiele, katholische Pfarrei | |   Unsere Zeitung

Seit Tagen bin ich am Überlegen, zu welchem Thema ich mein letztes Wort zum Sonntag verfassen soll. Da ich im Sommer meine Stelle wechsle, wird dies sozusagen meine «Abschlussvorstellung» in den «Volketswiler Nachrichten». Keine leichte Entscheidung, schliesslich habe ich ja einen gewissen Anspruch an mich selbst.

Manchmal ist es gar nicht so einfach mit meinen Ansprüchen an mich selbst. Ich gebe zu, ich bin leicht perfektionistisch veranlagt. Perfektionismus liegt im Trend. Heutzutage muss alles perfekt sein. In einer Zeit, in der Selbstoptimierung einfach dazugehört, geben wir diese Schwäche, im Gegensatz zu anderen Unvollkommenheiten, recht gerne zu. Wer hat nicht schon gesagt: «Ich bin halt etwas perfektionistisch.» Schliesslich klingt in diesem Satz unterschwellig mit: Ich bin zuverlässig, ordentlich und fleissig. Ich habe mich und mein Leben voll im Griff und hole in jeder Situation das Beste aus mir heraus. Was ist so schlimm daran, Dinge perfekt machen zu wollen? Auf den ersten Blick nichts. Denn, sind wir ehrlich, der Wunsch nach Perfektion steckt in uns allen. Manche Zeitgenossen streben einen stets blank geputzten Haushalt an, andere die durchorganisierte Buchhaltung, dritte lassen für die perfekte Familienfeier alles stehen und liegen. Alle drei streben, auf ganz unterschiedliche Arten, nach Vollkommenheit, denn diese trägt etwas Überirdisches, ja Göttliches in sich. Insofern spornt sie uns zu besonderem Einsatz und Höchstleistung an und ist ein sinnvolles und schönes Ziel. So weit, so gut. Aber Achtung, der österreichische Neurowissenschaftler, Psychiater und Psychotherapeut Raphael M. Bonelli schreibt: «Ein Perfektionist fühlt sich in seinem eigenen Inneren unwohl, hat eine tief sitzende Angst vor Ablehnung und macht sich und anderen mit seiner Verbissenheit das Leben schwer.» Autsch! Das tut weh. Was treibt uns also an, alles perfekt machen zu wollen?

Warum tun wir uns so schwer, auch mal mit 80 Prozent zufrieden zu sein? Es ist die Angst, die uns umtreibt. Die Angst davor, abgelehnt und ungeliebt zu sein, wenn wir einem Anspruch nicht genügen. Das setzt uns unter enormen Druck. Wir geraten in negative Gedankenspiralen und können unseren, meist selbst gesetzten, Ansprüchen, irgendwann gar nicht mehr gerecht werden. Es ist unmöglich, die eigene Leistung immer wieder neu zu toppen. Mir persönlich macht eine Legende aus dem Orient immer wieder neuen Mut, auch mal mit 80 Prozent zufrieden zu sein. Man erzählt sich, dass selbst die schönsten und teuersten orientalischen Teppiche irgendwo einen Webfehler haben. Das hat mit dem muslimischen Glauben zu tun. Denn es heisst: Die Teppichknüpfer machen einen Fehler in ihre wundervollen und kostbaren Teppiche, weil absolute Güte und Qualität, makellose Schönheit und Vollkommenheit nach ihrem Glauben nur Allah, also Gott, vorbehalten sind. Egal ob diese Legende wahr ist oder nicht, sie sagt etwas Elementares über meine Existenz als Mensch aus: So viel ich mich auch bemühe, immer das beste Ergebnis zu erzielen, perfekt bin nicht. Ich, als begrenzter, endlicher Mensch, kann nicht vollkommen sein. Das gilt sowohl im Job als auch im Privaten. Natürlich möchte ich eine gute Mutter, eine grossartige Freundin, eine gute Kollegin und eine wunderbare Mitarbeiterin sein, aber manchmal gelingt mir das nicht. Das muss ich akzeptieren. Wie den Fehler im Teppich, den ich wahrscheinlich nicht sehe, von dem ich aber weiss, dass er da ist: Perfekt, das ist nur Gott. Geh mit deinen Fehlern doch einfach gelassener um, sie gehören zu dir. Versuche trotzdem, gut zu sein, aber setze dich nicht so unter Druck. Wenn ich merke, dass ich meinem eigenen Anspruch wieder mal nicht gerecht werde, wenn ich unzufrieden bin, dann versuche ich mir bewusst zu machen: Auch Menschen haben «Webfehler». Ich bin nicht Gott. Es gibt Zeiten, da sind 80 Prozent mehr als genug. Und dann kann ich mich entspannen und Gott die Ehre geben. Denn nur er ist perfekt. Und er liebt mich mit all meinen Unvollkommenheiten. Schliesslich heisst es in der Bibel: «Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt» (Jeremia 31, 3).

Judith Schiele, Jugendseelsorgerin, katholische Pfarrei Volketswil

Zurück
Die Kommentarfunktion steht nur registrierten und angemeldeten Nutzern zur Verfügung. Zum Login.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!