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Zeit für den Rückbau

Erstellt von Franziska Ricklin, Sozialdiakonin reformierte Kirche | |   Unsere Zeitung

Bei einer Baustelle zieht ein Maurer meine Aufmerksamkeit auf sich. Er nimmt mit der Linken einen Stein, streicht mit der Rechten Mörtel darauf und fügt ihn sorgfältig in die Mauer. Den überflüssigen Mörtel schabt er weg und streicht ihn direkt auf den nächsten Stein. Auf diesen folgt der übernächste. Seine Bewegungen sind flüssig und ineinander verschränkt. Er arbeitet so zügig, wie das schwere Material es erlaubt, aber so umsichtig, wie die Genauigkeit es verlangt. Die Mauer soll schliesslich schön aussehen und der Witterung standhalten.

Ich sähe ihm gerne noch lange zu, leider habe ich keine Zeit. Doch die zwei geschickten Hände, die Steine in eine Mauer verwandeln, bleiben in meinem Kopf hängen. Mauern schützen, aber sie trennen auch. In den zwei Jahren Pandemie, die hinter uns liegen, haben Schutz und Trennung eine ganz neue Dringlichkeit erhalten: die Trennung vor der Virenlast anderer; der Schutz anderer vor unserer eigenen Ansteckbarkeit. Wenn wir zu lange hinter Mauern sitzen, verengt sich unser Blick. Wenn wir uns dort immer mit denselben Menschen austauschen, schränkt es unsere Wahrnehmung ein. So errichten wir Mauern in unserem Kopf und in unserer Gesellschaft, ohne uns dessen richtig bewusst zu sein. Dabei bräuchten wir Steine und Mörtel doch für Sinnvolleres. Die Wände, die wir auf diese Weise hochgezogen haben, sollen nicht Bestand haben. Sie sind weder schön, noch brauchen sie der Witterung standzuhalten. Bauen wir sie zurück. Und lassen wir uns dabei vom echten Maurer inspirieren. Nehmen wir den Rückbau mit derselben Sorgfalt und Ausdauer an die Hand, wie er sie beim Errichten an den Tag legt. Seien wir uns nicht zu schade, viele Male die gleiche Bewegung auszuführen. Bewahren wir uns den Glauben daran, dass dieselbe kleine Geste, oft genug wiederholt, eine grosse Wirkung haben kann. Arbeiten wir so schnell, wie die Verhältnisse es erlauben, aber so langsam, wie die Sorgfalt es verlangt. Und teilen wir die Kräfte gut ein, damit sie bis zum Schluss reichen.

Franziska Ricklin, Sozialdiakonin Reformierte Kirche

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